Herminengasse 6, 1020 Wien
Alexander Zaidmann
Irma Zaidmann
Charlotte Zaidmann
Im Dezember 2016 wurde hier über unsere Besucher aus Amerika berichtet. Nach diesem ersten Wien-Besuch veranlasste die Tochter von im Jahr 1939 aus Wien emigrierten Juden Celia W. über den Verein „Steine der Erinnerung“ 2018 die Anbringung einer Erinnerungstafel an der letzten Adresse ihrer Verwandten mütterlicherseits. Celias Großmutter Irma Zaidmann wurde zusammen mit ihrer Tochter Charlotte am 28. Oktober1941 von der Herminengasse 6 aus nach Lodz, Polen deportiert und in der Schoah ermordet. Celias Großvater Alexander Zaidmann gelang 1938 die Flucht nach Rumänien. Er wurde allerdings einige Monate nach seiner Flucht aus Wien am 28. Februar 1939 in Kishinev ermordet. Celias Mutter Martha Zaidmann konnte mit Hilfe der humanitären Rettungsaktion KINDERTRANSPORT nach England entkommen und überlebte so die Schoah. Während des Weges der Erinnerung durch die Leopoldstadt am 27. Mai 2018 wurde an das Haus Herminengasse 6 eine Gedenktafel für Celias Großeltern Irma und Alexander Zaidmann sowie für deren Tochter Charlotte Zaidmann, Celias Tante, angelehnt.
Die Tafel konnte vor der Einweihungszeremonie nicht angebracht werden, da das Einverständnis der mehr als dreißig Hauseigentümer fehlte. Da irrtümlich kommuniziert worden war, dass die Hauseigentümer mit der Anbringung einer Gedenktafel neben dem Eingang einverstanden wären, wurde eine Tafel statt eines Erinnerungssteins angefertigt (ein Erinnerungsstein wird üblicherweise in den Gehsteig vor dem Haus eingelassen, wozu lediglich das Einverständnis der Stadt Wien nötig ist). Zwei Besitzer einer Eigentumswohnung im Haus Herminengasse 6 gingen beim Weg der Erinnerung durch die Leopoldstadt mit und versicherten den Repräsentanten von “Steine der Erinnerung” und mir, dass sie sicher wären, dass bei der nächsten Hauseigentümerversammlung das Einverständnis gegeben würde. Sie persönlich seien jedenfalls dafür, dass die Gedenktafel neben dem Eingang angebracht wird. Leider kam es bei der Hauseigentümerversammlung zu keiner Einigung. Der Verein „Steine der Erinnerung“ versuchte weiterhin das Einverständnis aller Hauseigentümer einzuholen – vergebens. Schließlich begann ich diesbezüglich eine Umfrage unter den Wohnungseigentümern und traf auf eine junge Frau, die mein Anliegen an ihre Eltern, die im Haus eine Eigentumswohnung besitzen, weiterleitete. Die Antwort ihres Vaters, die ich einige Tage später per E-Mail erhielt, machte mich betroffen: „Es kam zu einer anonymen Abstimmung, die ergab, dass nicht alle Wohnungseigentümer mit der Anbringung einer Gedenktafel einverstanden sind. Die Anonymität der Abstimmenden ist zu respektieren.“
Wie sollte ich das Celia erklären? Ihre Verwandten wurden aus dem Haus in der Herminengasse 6 weggebracht und in der Schoah ermordet. Sie haben nirgendwo ein Grab, das Celia besuchen könnte, um ihrer Trauer Raum zu geben. Und an dieser letzten bekannten Adresse von Celias Verwandten in Wien wird die Anbringung einer Gedenktafel ohne Angabe von Gründen und anonym abgelehnt.
Um Worte ringend zog ich schließlich den Vergleich zu Oskar Schindlers Geburtshaus, dessen heutiger Besitzer ebenfalls die Anbringung einer Gedenktafel ablehnt. Es ist allerdings anzunehmen, dass es hier andere und konkretere Gründe gibt. Das ehemalige Schindler-Haus in Svitavy, Tschechien wurde aufgrund der Benes Dekrete bei der Vertreibung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei enteignet. Laut Karl Schwarzenberg, ehemals Außenminister der Tschechischen Republik, “würden die Benes Dekrete heute als grobe Verletzung der Menschenrechte gelten und die damalige tschechische Regierung müsste sich nach heutigen Maßstäben wohl vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten.” www.demokratiezentrum.org/wissen/timelines/benes-dekrete.html?type=98
Näheres zu Oskar Schindlers Lebensgeschichte und seiner Fabrik in Brnenec/Brünnlitz (heute Tschechien), wo er 1200 Juden vor der Mordmaschinerie der Nationalsozialisten rettete, gibt es in Werner Müllers Filmdokumentation „Oskar Schindlers schwieriges Erbe – die Fabrik in Brnenec/Brünnlitz“ zu sehen, die parallel zu meiner Masterarbeit entstand:
Schließlich entschied der Verein „Steine der Erinnerung“ einen Gedenkstein anzufertigen und vor dem Haus Herminengasse 6 in den Gehsteig einzulassen. Die nicht verwendete Gedenktafel wird Celia bei ihrem nächsten Wien-Besuch nach Amerika mitnehmen.
Max-Winter-Platz 20, 1020 Wien
Samuel Bohensky
Cilli Bohensky
Anna Bohensky
Celia plante zur Einweihung des Erinnerungssteins für die Familie ihres Vaters Siegfried Bohensky nach Wien zu kommen. Wegen der Corona-bedingten Reisebeschränkungen konnte sie am 4. Oktober 2020 allerdings nicht dabei sein, als der 14. Weg der Erinnerung durch die Leopoldstadt stattfand. Celia bat mich, die von ihr zusammengestellten Gedenkworte zu sprechen.
Celia hatte beschlossen, den Gedenkstein vor jenem Haus anbringen zu lassen, in dem ihr Vater mit seiner Familie eine glückliche Kindheit verbrachte (Max-Winter-Platz 20, damals Sterneckplatz 20) und nicht vor jenem Haus, das der Ausgangspunkt der Deportation der Familie Bohensky war. Kurz vor der Deportation, der der damals 14-jährige Siegfried Bohensky durch eine Ausreise nach England entkommen konnte, wurde die Familie in eine beengte Sammelwohnung in der Nähe der Herminengasse 6 gebracht, wo Celias Mutter bereits mit ihrer Familie in einer Sammelwohnung lebte. Celias Eltern lernten sich als Jugendliche in dieser schwierigen Zeit in der Umgebung der Herminengasse kennen und trafen sich später auf wundersame Weise in der Emigration wieder.
Der Weg der Erinnerung begann mit einer Zeremonie am Max-Winter-Platz. Die Bezirksvorsteherin war anwesend und eröffnete mit einer bemerkenswerten Ansprache den Gedenkweg durch die Leopoldstadt.
Der Erinnerungsstein für die Familie Bohensky war der erste Stein, der auf dem 14. Weg der Erinnerung durch die Leopoldstadt eingeweiht wurde. Ich begann Celias Gedenkworte, die eine umfassende Geschichte ihrer Familie väterlicherseits schildern, zu verlesen. Die Einweihung wurde videoaufgezeichnet und an Celia übermittelt.
Da ich den beträchtlichen Umfang der Gedenkworte kannte, bemühte ich mich relativ zügig zu lesen. Die Bedeutung der Worte ging mir allerdings nahe und erschwerte einen emotionsneutralen, raschen Vortrag.
Hier einige Zitate samt Übersetzung:
Before he left my father Siegfried gave his Bar Mitzvah signet ring to his family for them to sell so that they could buy food. He said goodbye to his father Samuel, mother Cilli and sister Anna on August 1, 1939, a day before his 15th birthday. He never saw them again.
ÜBERSETZUNG: Bevor mein Vater wegfuhr, gab er seiner Familie seinen Bar Mitzwa-Siegelring, damit sie ihn verkaufen und mit dem Erlös Lebensmittel einkaufen konnten. Am 1. August 1939 sagte er seinem Vater Samuel, seiner Mutter Cilli und seiner Schwester Anna Lebewohl. Es war der Tag vor seinem 15. Geburtstag. Er sah sie nie wieder.
Als ich beim Lesen zu jener Passage kam, in der Celia schildert, dass ihrem Vater Siegfried Bohensky beinahe die Rettung seiner Eltern und seiner Schwester aus Wien gelungen wäre, kämpfte ich mit den Tränen.
On board the train to Exmouth, Siegfried sat across a man who noticed this sad, lonely, terrified young man. The man tried to speak in English to him but realized that my father spoke German. The man was a government official from the British foreign office who spoke German. Siegfried told this government official about his circumstances and his family still in Vienna and the man promised to try to get Siegfried’s parents and sister to England. The government official kept his word and started to send the necessary documents to Siegfried’s family in Vienna. But it was too late. On September 3, 1939 the United Kingdom declared war on Germany and the Bohensky family was not allowed to leave.
ÜBERSETZUNG: Im Zug nach Exmouth saß Siegfried einem Mann gegenüber, der den traurigen, einsamen und erschrockenen jungen Burschen bemerkte. Der Mann versuchte mit ihm Englisch zu sprechen, erkannte dann allerdings, dass mein Vater Deutsch sprach. Dieser Mann war ein Regierungsbeamter des britischen Außenministeriums, der die deutsche Sprache beherrschte. Siegfried schilderte diesem Regierungsbeamten seine Lebensumstände und dass seine Familie noch in Wien war. Der Mann versprach, Siegfrieds Eltern und Schwester nach England zu holen. Der Regierungsbeamte hielt sein Versprechen und begann die nötigen Dokumente an Siegfrieds Familie in Wien zu senden. Es war allerdings zu spät. Am 3. September 1939 erklärte das Vereinigte Königreich Nazi-Deutschland den Krieg und die Familie Bohensky durfte nicht mehr emigrieren.
Die Ausreise nach England, mit dem sich Nazi-Deutschland nun im Krieg befand, war nicht mehr möglich. Die Rettung kam zu spät. Die Familie Bohensky wurde in das in der jüdischen Schule in der Castellezgasse 35 eingerichtete Sammellager gebracht und am 15. Februar 1941 zusammen mit 996 jüdischen Österreicherinnen und Österreichern auf offenen Lastwagen zum Aspangbahnhof gefahren und von dort nach Opole, einer kleinen polnischen Landstadt, die nicht auf die Aufnahme vieler Menschen vorbereitet war, deportiert. Nicht einmal 30 von ihnen sollten überleben. Es war der erste von insgesamt fünf Transporten, mit denen im Februar und März 1941 rund 5000 Jüdinnen und Juden in polnische Kleinstädte im damaligen Generalgouvernement deportiert wurden. Die verschleppten Wiener Jüdinnen und Juden wurden notdürftig in ärmlichen Behausungen untergebracht und durften sich innerhalb des Ortes Opole frei bewegen, diesen aber nicht verlassen. Sie wurden unzulänglich mit Lebensmittel versorgt und zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die meisten der im Frühjahr 1941 aus Wien Deportierten wurden im Frühsommer 1942 gemeinsam mit polnischen Jüdinnen und Juden in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor oder Treblinka ermordet (siehe Letzte Orte vor der Deportation – science.ORF.at).
Der Erinnerungsstein im Gehsteig vor dem Haus am Max-Winter-Platz 20 ist gewissermaßen der Grabstein der Familie Bohensky, der nahezu acht Jahrzehnte nach deren Deportation und darauffolgenden Ermordung von der Enkelin von Samuel und Cilli Bohensky sowie der Nichte von Anna Bohensky initiiert, finanziert und schließlich vom Verein “Steine der Erinnerung” hergestellt und in den Gehsteig neben dem Hauseingang eingelassen wurde. Die Einweihungsfeier des Erinnerungssteins war gleichsam die Trauerfeier für die in der Schoah ermordete Familie Bohensky. Nicht nur ich kämpfte beim Verlesen der berührenden Gedenkworte mit den Tränen. Celia und ihre Familienangehörigen, die der Gedenkfeier am Max-Winter-Platz 20 via Videoaufzeichnung in ihrem Haus in Kalifornien beiwohnten, konnten ihre Tränen nicht zurückhalten.
Sobald es wieder möglich ist, von Amerika nach Österreich zu reisen, möchte Celia mit ihrem Ehemann Allen noch einmal nach Wien kommen. Es wird mir ein Vorrecht sein, sie diesmal an jene Orte in Wien zu führen, die im Besonderen an Celias Herkunftsfamilien Zaidmann und Bohensky erinnern.
Elisabeth Baumegger (15. Februar 2021)