Eine Möbelspende war Anlass, um Ende April 2024 wieder einmal nach Oradea, Rumänien (ganz an der ungarisch-rumänischen Grenze gelegen) zu fahren und people2people mit diversen Hilfsgütern zu unterstützen. Dieser Dienst kümmert sich vor allem um Roma-Kinder, d. h. Kinderbekleidung war neben den Möbeln, u. a. einem Schreibtisch, eine Priorität. So wurde eine Freundin kontaktiert, die tatsächlich Kindersachen beiseite gelegt hatte. Mein Anruf kam gerade zur rechten Zeit, die Sachen wurden am Vorabend der großen Fahrt abgeholt und im Bus verstaut, der somit randvoll gefüllt war.
Eine Freundin, die die Reise nach Oradea ursprünglich angeregt hatte, konnte dann doch nicht mitfahren, da sie sich am Wochenende vom ungewöhnlich großen Büro-Stress erholen musste. Nach einer harten Arbeitswoche eine über 1000 km lange Autofahrt zu unternehmen, wäre einfach zu anstrengend für sie gewesen. Sie spendete allerdings viele Süßigkeiten für die Kinder, wofür ich sehr dankbar war. Und so beschloss ich, die Hilfsgüter allein nach Oradea zu bringen. Ich war bereits allein nach Oradea gefahren und kannte die Strecke. Nun hatte ich allerdings erfahren, dass es eine durchgehende Autobahn nach Oradea gäbe. Umso besser, dachte ich mir. Da ich die Premium-Version eines Navigationssystems erstanden hatte, das mir bereits als Basis-Version in Israel gute Dienste geleistet hatte, war ich mir sicher, dass die neue Autobahn-Route leicht zu finden wäre. Weit gefehlt, denn das Navi kommunizierte leider nicht optimal mit mir. Es benötigte eine Zusatzfunktion, die erst beim nächsten WLAN-Zugang heruntergeladen werden konnte (d. h. nach meiner Ankunft im Hotel in Oradea).
Jenseits von Budapest suchte ich mittels Wegweiser die Route nach Rumänien – RO. Die Autobahn M5 führt über Szeged zur ungarischen Grenze mit Rumänien. Es war natürlich nur der Hinweis „nach RO“ angegeben und so folgte ich dieser Route. Nachdem ich schon einige Kilometer auf der M5 zurückgelegt hatte, tauchte endlich der Ortsname „Arad“ auf einem Autobahnwegweiser auf. D. h. ich war auf dem Weg nach Süden (rumänische Grenzstadt Arad) und nicht direkt nach Osten (Oradea), wo ich hinwollte. Ich beschloss, die Autobahn zu verlassen und über Landstraßen direkt nach Osten zu fahren. Ich kam nur langsam voran und wollte sicher gehen, dass ich die direkte Route erwischte. Daher hielt ich an und fragte eine Gruppe von Menschen nach dem Weg. Es stellte sich heraus, dass ich mit drei Generationen ortsansässiger Ungarn sprach. Der Älteste in der Gruppe verhärtete seine Züge, als ich nach dem Weg nach „Oradea“ fragte. Er war nicht bereit, mir zu helfen. Sein Sohn, der mit seinen Kindern und seiner Frau dabei stand, war Gott sei dank hilfsbereiter und er sprach auch gut Englisch. Im Gespräch erwähnte ich schließlich den ungarischen Namen von Oradea, nämlich Nagyvárad. Plötzlich erhellte sich das Gesicht des älteren Mannes. Wohlwollend harrte er nun neben seinem Sohn aus, der mir auf meiner Straßenkarte die Route über Püspökladány zur rumänischen Grenze zeigte. Interessanterweise erwähnte auch der Sohn nie den rumänischen Namen der Stadt. Auf meine präzise Nachfrage, ob es hier „nach Oradea“ gehe (ich wollte sicher gehen), antwortete er nur „hier geht es zur Grenze“. Ich wunderte mich über seine ausweichende Formulierung, doch noch viel mehr freute ich mich über seine Hilfsbereitschaft und bedankte mich herzlich bei ihm und seiner ganzen Familie. Erst später wurde mir das Symbolhafte der Situation bewusst.
Ein Blick auf die Geschichte der Region um Oradea erklärt die Haltung dieser Ungarn. Ganz Siebenbürgen, darunter auch das Kreischgebiet (benannt nach dem Fluß Kreisch/ung. Sebes-Körös/rum. Crişul) mit dem Kreis Bihor, dessen Hauptstadt Oradea ist, war früher ein Teil Ungarns (Komitat Bihar, Hauptstadt Nagyvárad). Nach dem 1. Weltkrieg wurde im Friedensvertrag von Trianon (Vorort von Paris, wo die siegreichen Alliierten mit den unterlegenen Ungarn die Friedensbedingungen aushandelten) ganz Siebenbürgen Rumänien zugesprochen. Als Österreicherin ist mir nur Saint-Germain geläufig, wo der Friedensvertrag bez. Österreich ausgehandelt bzw. diktiert wurde.
Viele Ungarn schmerzt der Verlust Siebenbürgens immer noch, die Grenzziehung von 1918 wird als willkürlich und ungerecht empfunden (s. Abbildung: ca. ein Drittel des heutigen Rumänien gehörte vor 1918 zu Ungarn). Rumänische Namen von ehemals ungarischen Städten erinnern die Ungarn schmerzlich an diesen Verlust. Es ist verständlich, dass sie ihre eigenen, ungarischen Namen für die nunmehr in Rumänien liegenden Städte verwenden.
Rumänien seinerseits wählte mit großer Sorgfalt neue, rumänische Namen für die einst ungarischen Städte, um eine Assoziation mit den ungarischen Namen zu vermeiden. „Oradea“ z. B. hat gemäß einiger Menschen mit rumänischer Muttersprache, die ich dazu befragte, keine Bedeutung auf Rumänisch. Bis 1925 hieß es allerdings „Oradea Mare“ (das röm.-kath. Bistum sowie die griech.-kath. Eparchie heißen bis heute Oradea Mare). Ein Übersetzungsprogramm übersetzt diese zwei Wörter mit „große Stadt“.
Es ist unstrittig, dass „mare“ „groß“ bedeutet, denn Satu Mare zB bedeutet „großes Dorf“ für ehemals ung. Szatmárnémeti, dt. Sathmar. „Stadt“ heißt auf Rumänisch allerdings „oraş„ und nicht „oradea“. Eventuell handelt es sich bei „dea“ um ein altes Suffix, das früher für Ortsnamen zur Anwendung kam. Denn der ungarische Name von Oradea „Nagyvárad“ bedeutet auf Ungarisch so viel wie „Große Burg“: nagy = groß, vár = Burg und „ad“ ist ein Suffix für Ortsnamen. Außerdem bedeuten das griechische „varosi“ und das lateinische „varadinum“ beide „Festung“. Kombiniert mit dem lateinischen „urbe“, was „Stadt“ bedeutet, ergibt sich „Festungsstadt“, was perfekt zur historischen Realität passt, dass Oradea/Nagyvárad unter anderem in der österreichisch-ungarischen Monarchie eine wichtige Garnisonsstadt war. Der deutsche Name des heutigen Oradea lautet übrigens Großwardein (ich staunte nicht schlecht, als einmal ein bestimmtes deutschsprachiges Navi „Großwardein“ statt „Oradea“ anzeigte).
Mithilfe der präzisen Anleitung des jungen Ungarn fuhr ich zum Verkehrsknoten Püspökladány, wo ich auf die nagelneue Autobahn M4 auffahren konnte und nach kurzer Fahrt Oradea erreichte. Die Übergabe der Hilfsgüter ging in Oradea rasch über die Bühne, nachdem ich die neue Adresse des Vereins p2p mithilfe des aktualisierten Navis mühelos gefunden hatte. Der p2p-Leiter half rasch bei der Entladung des randvollen Busses und bedankte sich für die Hilfsgüter.
Bald konnte ich die Rückreise antreten, die mich über das Stadtzentrum von Budapest führte. Denn dort wurde ein E-Piano in den Bus geladen, das u. a. für die musikalische Untermalung künftiger Freundschaftstreffen unseres Vereins in Wien eingesetzt werden wird.
Im Rückblick verlief meine Reise nicht so, wie ich es ursprünglich erwartet hatte. Unterwegs machte ich allerdings Erfahrungen, die mich Wichtiges und Wissenswertes über die gemeinsame Geschichte Ungarns und Oradeas lehrten, wofür ich dankbar bin.
Elisabeth Baumegger
(Ende April 2024)